Rea x Avens

Avens balancierte über eine niedrige Mauer, die Hände in den Hosentaschen und den etwas leeren Blick nach vorn gerichtet. Die Menschen gingen an ihm vorbei, bemerkten, nein, sahen ihn nicht und interessierten sich auch nicht für das plop, wenn ein Stein sich von der Steinmauer löste und auf den Boden fiel. Avens hellgraue Haare standen etwas wirr von seinem Kopf ab, mit der Pilotenbrille hatte er sie etwas gebändigt, wenn auch nicht wirklich - wieso auch? Sah ihn ja sowieso niemand und die, die ihn sahen kümmerten sich nicht um ihn. Er war ein Neutraler, noch dazu Herr und gleichzeitig Gefangener der Zeit. Er streckte den Arm aus, schlug einer Frau die gesamte Einkaufstasche aus der Hand und sah sie mit leicht amüsiertem Blick an, als er Glas splittern hörte. Das war wohl das einzigste, was ihm inzwischen noch Freude bereitete: Menschen ärgern, Menschen in Gefahr bringen und Menschen irre zu machen.
Er sprang mit einem Satz von der Mauer, ging leicht in die Knie, als seine Fußspitzen den Boden berührten und federte den Sprung so ab, dass er lautlos ankam. Er ließ den Blick schweifen. Nichts zu tun hier, wie immer also. Gedankenverloren zupfte er an seinen schwanzen Bandagen, die um seinen Bauch sowie seinen gesamten Brustkorb gewickelt waren und unter dem er einiges aufbewahrte - und gleichzeitig die riesige Narbe über seinem Herz bedeckte. Er stand eine Weile so da, bevor er seinen Weg fortsetzte, ein Paar Passanten wegstieß oder ihnen Dinge klaute. Einem kleinen Jungen steckte er ein Klappmesser zu, dumme Menschen, wer weiß was der Junge damit tun würde? Fast gleichgültig zuckte er mit den Schultern, lehnte sich mit dem Rücken an eine Straßenlaterne und sah in den Himmel. Es dämmerte, die Sonne ging unter und langsam konnte man ein paar Sterne sehen. Die Zeit verging, alles verging, Menschen starben, Helden wuchsen, Bewohner der Unterwelt wurden mächtiger und Avens..?
Avens blieb.

Rea öffnete die Augen. Sie saß im Schneidersitz auf dem roten Teppich vor ihrem Thron im Schloss, die Hände auf den Knien und Zeigefinger und Daumen aneinander. Meditieren war zu einem festen Bestandteil ihres Tagesplans geworden. Sie wollte wenigstens etwas Selbstbeherrschung haben, sollte sie wieder in diese Art Blutrausch verfallen. Dieser war in den letzten Tagen sehr häufig vorgekommen, manchmal auch, wenn niemand anderes in der Nähe war. Langsam stand Rea auf und nahm das blutverschmierte Messer von dem Thron, um sich hinzusetzen. Sie stützte ihren Kopf auf die Faust und musste lächeln. All das hier - das Messer, der Thron, das gesamte Schloss - hatte einmal jemand anderes gehören sollen? Doch es war so. Rea musste nun leise kichern, als sie an all die Demütigungen und Qualen dachte, unter denen sie leiden musste, an die sie sich jetzt jedoch kaum noch erinnerte. Es war beinahe wie ein endlos langer Alptraum gewesen, und jetzt endlich war sie aufgewacht. Sie drehte das Messer in ihrer Hand und schnippte an die Klinge. Das Werkzeug, vor dem sie die größte aller Angst gehabt hatte, war nun zu ihrem besten Spielzeug, man konnte schon beinahe sagen Freund, geworden. So fühlt es sich also an, Herrscherin der Unterwelt genannt zu werden. Doch zum anderen war es auch ein bisschen langweilig. Satan hatte damals Rea gehabt, die er umbringen konnte, umherschubsen, endlos quälen konnte, doch Rea war... wie konnte man sagen, Satans 'Nachfolgerin', und sie hatte niemanden, der sie bediente? Andererseits hat sie ja auch einiges, was Satan damals nicht hatte. Er musste sie immer wegschicken, wenn er etwas brauchte. Es war sehr wahrscheinlich, dass er sogar das Schloss gar nicht verlassen konnte! Bei Rea war das anders, sie konnte gehen, wann und wohin sie wollte, sogar zurück in die Welt der Lebenden. Und deshalb meditierte sie. Würde sie sich nicht beherrschen können, hätte sie wahrscheinlich schon so viele Lebende abgeschlachtet und zu sich geholt, bis es keine mehr gab, und dann hätte Rea ein Problem. Denn ein Teil von ihr, und sie wusste noch nicht ganz, wie mächtig dieser Teil war, wollte töten. Endlos töten.
Und trotz der Meditation konnte Rea diesen Teil nicht ganz unterdrücken. Es war eine Weile her, seit sie das letzte mal jemanden getötet hatte, und deshalb wusste sie, dass sie das bald nachholen musste. Sonst würde die stärkste Meditation auch nichts mehr bewirken.
Rea stand auf und legte das Messer zurück auf den Thron. Jetzt war ein guter Zeitpunkt, zu gehen. Sie sah ein letztes Mal durch den Raum. Es gab viele Fenster hier im Thronsaal, und alle waren vollkommen von Vorhängen bedeckt. Nicht ein Licht viel hindurch, aber das musste es auch nicht. Die schwachen Kerzen an den Seiten des endlos scheinenden Raumes waren vollkommen genug, außerdem tauchten sie den Raum in eine dunkle und bedrohliche Atmosphäre. Der Teppich ging vom Thron bis zur Tür, welche einer Art großem Tor ähnelte. Rea lief bedacht langsam bis ans andere Ende auf die Tür zu, es schien ihr eine Ewigkeit, bis sie die Türen öffnen und in den Flur treten konnte. Ihn bestrahlte fast kein Licht, doch das machte gar nichts. Die Tür fiel hinter Re zu, und die Magierin schien zusammen mit dem Knall zu verschwinden.
Genau im selben Augenblick sah Rea eine Mauer vor sich. Direkt vor sich, sie stand beinahe in ihr drinnen. Sie ging einen großen Schritt zurück, um nicht doch noch mit der Mauer zu verschmelzen. Auf ihrer anderen Seite hörte sie Geräusche, viele Stimmen, Lebende, Schritte. Rea jedoch befand sich in einer Art Sackgasse. Währe sie doch nur ein Stück größer, dann könnte sie auf Zehenspitzen über die Mauer sehen. Leider blieb ihr das verwehrt, doch etwas anderes konnte sie sehen, oder besser jemanden. Er lief auf der Mauer und direkt auf sie zu, und auch, wenn sie ihn nicht gleich erkannte, so wusste, spürte sie doch, dass sie ihn schon irgendwo gesehen hatte.

Avens war inzwischen wieder auf der Mauer. Er setzte einen Fuß vor den anderen, konzentrierte sich nicht sonderlich und starrte in die Luft. Was war da in ihm? Diese Leere, diese gähnende Leere, unwissen. Wie lang war es her? Zu lange. Das einzigste, woran er sich errinern konnte war Rea. Die Rea, die ihn geliebt hatte. Die Rea, die Satan belog um Avens sicher zu wissen. Die Rea, die verzweifelt war, als Satan ihr auf die Schliche gekommen war... und die Rea, die ihn getötet hatte. Er senkte den Blick, starrte die Mauer unter seinen Füßen an und dachte nach, dachte an Rea, die jetzt über die Unterwelt herrschte.
Wie hatte sich die Dunkelheit wohl in ihr Herz gefressen, sie benebelt, ihre Gedanken verfinstert und ihre Errinerungen gelöscht oder sogar verändert? Oh sie müsste inzwischen ein Abbild Satans sein, vielleicht sogar grausamer, unbarmherziger und kälter, schließlich konnten Dunkelheit und Liebe einen zum Wahnsinn treiben. Alles, was Avens daran hinderte, es schlicht und einfach für einen Traum zu halten, waren die Narben, die er bei dem Zeitsprung davongetragen hatte. Einige kleinere, kreisrunde Narben befanden sich auf seinem Oberarm bis hin zu seiner Brust, die größte Narbe war direkt auf seinem Brustkorb über seinem Herzen. Den Spitznamen "Time" hatte Avens längst abgelegt. Er schien nichtmehr zu passen, Zeit war nichts im Gegensatz zu seiner Liebe, die er empfunden hatte. Seiner Meinung nach sollte man Zeit verschwenden, solange man noch welche hatte, schließlich ist die Zeit nicht der Herrscher über einen selbst - oder doch?
Mit diesen Gedanken im Kopf sah er auf, sein Blick wurde wie von der Gestalt angezogen und er wich einen Schritt zurück. Ein Keuchen entfuhr ihm, er wich weiter zurück und riss die Augen auf. Diese Gestalt... diese Gestalt die er gerade so ungläubig anstarrte...
War Rea.

Rea hob den Kopf und sah Avens nun direkt an. Dieses Gesicht, sie war so sicher, dass sie es kannte, dass es ihr etwas wichtiges bedeutete oder bedeutet hatte, doch nur was? Sie starrte ebenfalls lange Zeit nachdenklich in Avens' erschrockene, geschockte Augen. Solange sie nicht auf die andere Seite der Mauer kam, konnte sie ihn doch umbringen, jedoch wollte sie erst wissen, wer er war, wollte sich erinnern an etwas noch verschleiertes. ,,Was guckst du so?", forderte sie ihn heraus. So, wie er guckte, musste er sie auch erkannt haben. Dann war er vielleicht ein Bewohner der Unterwelt, jedoch hatte Rea ihn noch nie dort gesehen, geschweige denn von ihm gehört. Vielleicht war er dann doch ein Held? Aber wussten die Helden denn schon, dass sie jetzt an der Spitze war? Kaum möglich.
Die am meisten mögliche Möglichkeit war, dass er ein Neutraler war. Rea spürte Magie von ihm ausgehen, was ihn unmöglich zu einem normalen Sterblichen machen könnte. Dann war es auch nicht allzu verwunderlich, dass er sie kannte. Jedoch erklärte es immer noch nicht, warum er sie so anstarrte, man konnte es noch nicht einmal damit vergleichen wie wenn ein Mensch einen Geist sieht. Warum steht er auch noch auf der Mauer? Wenn er wirklich weiß, wer vor ihm steht, soll er gefälligst Manieren zeigen!

Avens schluckte, blieb stehen und blinzelte. Ungläubig daran, dass diese Gestalt echt war, schwankte er leicht, minimal, kaum zu erkennen, dann setzte er einen Fuß zur Seite und sprang so elegant von der Mauer. Fast lautlos kam er am Boden an, ließ sie Menschen, für die es aussehen musste, als würde Rea mit der Luft reden oder gar halluzinieren, ihm jedoch war das, wie Rea warscheinlich, vollkommen egal, einfach an sich vorbeiziehen. Er trat einen Schritt auf sie zu, blieb jedoch auf Abstand, schließlich schien sie ihn nicht zu erkennen. Leicht aggressiv biss er sich auf die Unterlippe, schüttelte den Kopf und sah ihr in die dunklen, grausamen Augen. "Kennst du mich noch?" fragte er, seine Stimme war kalt und sicher, auch wenn er sich nicht so fühle. Er schloss kurz die Augen, nickte kaum merklich und sah sie dann wieder an. Die Liebe, die er früher bei ihrem Anblick gespürt hatte, war da, jedoch schwach, schließlich konnte er sie weder einschätzen, noch wusste er, ob es seine Rea war, die, die er kannte und die, die er liebte. Mit kühlem Blick musterte Avens ihren Arm, suchte nach den dunklen Adern und den schwarzen Malen, sah jedoch nach dem Bruchteil einer Sekunde wieder in ihre Augen. Wieso war er aggressiv? Wieso?
Er war wütend auf die Dunkelheit, die sich in Rea's Adern wand und ihr Herz mit Schatten füllte.
Er war wütend auf die Unterwelt, die Rea als Herrscherin ausgewählt hatte.
Er war wütend auf die Zukunft, die ihn in diese Situation gebracht hatte.
Und er war wütend auf sich, da er sie nicht hatte retten können.
Die Zeit wurde schneller. Tick... Tick... Tick. Tick. Tickticktick Die Menschen bewegten sich atemberaubend schnell. Tickticktick Die Wolken zuckten am Himmel Tickticktick Doch Avens Herz schlug langsam.

Rea nickte kaum merklich, als Avens elegant von der Mauer hüpfte und sie kalt musterte. Dass er auf Abstand von ihr blieb, konnte Rea verstehen. Dennoch war die gesamte Atmosphäre auf einmal kalt geworden. Rea hörte die Stimmen der Menschen nicht mehr, sah nur noch Avens vor sich. Den Typen, den sie glaubte, zu kennen, ihn jedoch nie gesehen hatte. Nach seiner Frage antwortete sie zuerst nicht. Eine ganze Weile blieb es still. Sie merkte, wie die Zeit schneller wurde, wie sich die magische Aura veränderte, doch Rea ließ sich davon nicht ablenken. Alle Menschen bewegten sich mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, doch sie und ihr Gegenüber, sie blieben normal. ,,Du kannst die Zeit manipulieren.", stellte Rea an Avens gewandt fest und merkte, dass ihr das so schrecklich bekannt vorkam. Misstrauisch zuckte eine ihrer Augenbrauen, als sie fragte: ,,Wer bist du?"
Sie wollte es endlich wissen, und wenn er es ihr nicht sagte, würde sie das aus ihm herausquälen müssen. Sie hasste dieses Gefühl der Unwissenheit, etwas nicht zu erkennen, zu wissen. Sein Gegenüber nicht einschätzen zu können. Und noch mehr hasste sie, dass er sie kannte, aber sie ihn nicht.

Avens sah sie fast kalt an, schwieg bei ihrer Feststellung und antwortete ihr auf ihre Frage nichts. Sie wusste, wer er war. Tief im Inneren musste sie es wissen, auch wenn ihr dunkler Teil sie fast vollkommen eingenommen hätte und er wusste, dass sie durchaus angreifen konnte. "Soll sie doch, dann kann ich wenigstens in ihrer Nähe sterben..." dachte er, bemerkte aber sofort die Bedeutung seiner Gedanken. Er wollte nicht sterben, noch nicht.
Mit einer Hand fuhr er sich langsam durch die hellgrauen Haare, den Blick weiterhin auf die Magierin gerichtet. "Du weißt wer ich bin, Rea." sagte er schließlich mit fester Stimme und hob leicht das Kinn. Sie würde es schaffen, er war fest davon überzeugt, sie kannte ihn, sie wusste wer er war und sie würde die Lücken in seinen Errinerungen füllen. Es war doch so leicht, soetwas konnte sie doch nicht vergessen!
Er seufzte stumm, sah sie an und wartete, dass sie reagierte. Kurz ließ er den Blick über Rea schweifen. Sie war schön, immernoch, fast makellos - aber so voller Dunkelheit...

Rea schwieg und wartete geduldig auf Avens' Antwort, beobachtete jede seiner Bewegungen. Fast hätte sie sich gefragt, ob er stumm sei oder taub, oder selbst nicht wisse, wer er sei, da antwortete er endlich. Doch Rea schwieg noch immer. ,,Wenn ich es wüsste, hätte ich nicht gefragt, oder? Doch zum Teil stimmte auch, was er sagte. Er kam ihr ja bekannt vor, sie wusste, dass er mal jemand wichtiges für sie war, oder so was in der Art. Hab ich jemanden getötet, der ihm nahe stand? Das würde etwas erklären... Jedoch immer noch nicht alles. ,,Woher kennst du meinen Namen?", fragte sie einfach. Auch wenn diese Frage unlogisch war, vielleicht sagte er ja dann, woher sie ihn kannte, und ihr würde alles wieder einfallen. Sie hoffte es.
Doch je länger sie Avens ansah, merkte sie, dass er etwas in ihr daließ. Ein Gefühl, das Rea nicht kannte. Es war merkwürdig, fast wie eine andere Form von Hass, ein Gefühl, das Rea noch nie gefühlt hatte - oder vielleicht nach endlos langer Zeit vergessen hatte.

Avens kniff die hellen Augen zu Schlitzen zusammen und näherte sich Rea. "Von früher. Oder später..." antwortete er auf ihre Frage und blinzelte langsam. Er lehnte sich leicht nach vorn, sah die etwas kleinere Rea eindringlich an, schüttelte dann aber fast enttäuscht den Kopf. "Du hast Zeit, Rea." meinte er schließlich leise, wenn auch eindringlich. Am Liebsten hätte er sie sofort in den Arm geschlossen, doch nicht, wenn sie sich in diesem Zustand befand, ausserdem war er noch immer aggressiv und angespannt. Er legte aus Gewohnheit die Hand auf die Bandagen, sah Rea weiterhin an und wartete erneut. Es war seltsam, als hätte Rea alles vergessen oder verdrängt, errinerte sich nicht einmal daran, wie sie ihn töten wollte. "In der Zukunft wusstest du wer ich war." Er errinerte sich an Edo-Rea, Rea aus der Zukunft, die ihn versucht hatte zu beschützen und die ihn liebte, doch Zukunft kann sich ändern, Zeit kann umgeschrieben werden.

Rea schwieg erneut. Sie wusste nicht, was er da von sich gab, welche Bedeutung seine Worte hatten, dennoch fühlte sie sich zu diesen Worten auf irgendeine Art und Weise hingezogen. Ihre Blicke wanderten zu den Bandagen, die sie damals abgezogen hatte, und dann die gelben Punkte zu sehen. Ob sie immer noch da waren? Rea schluckte. Gelbe Punkte? Ja, sie wusste noch genau, wie sie sie entfernt hatte. Aber wann, wo? Sie sah zurück in Avens' blaue Augen, zu den hellgrauen, zotteligen Haaren, die durch die Pilotenbrille gehalten wurden, zu dem Gesicht, welches sie kannte, und dann doch wieder nicht... Und dann fiel er ihr ein.
,,Avens." Rea sah auf. ,,Das ist dein Name, nicht?" Sie erinnerte sich. An das Treffen im Kino. An die Reise in die Zukunft. Und daran, wie sie ihn getötet hatte. ,,Warum lebst du noch?", fragte sie kalt. Keine Regung war in ihrer Stimme zu hören, sie war ebenso kalt, wie der Rest an ihr auch. Ja, sie erinnerte sich, an alles Geschehene. An ihn und an sich, an die Furcht und an ein gewisses Band. Doch an alles erinnerte sie sich nicht. Die wichtigste Erinnerung blieb ihr immer noch verschleiert, die Erinnerung, die vielleicht alles verändert hätte, war nicht da.
Sie hatte vergessen, dass sie ihn liebte.

Als Rea seinen Namen sagte, schluckte Avens. Ihre Stimme klang so kalt, als sie seinen Namen aussprach, nicht wie früher, sondern einfach nur kalt. Avens nickte als Antwort, mehr war nicht nötig, dann jedoch stellte Rea eine andere Frage und Avens dachte für einen Herzschlag nach, bevor er antwortete. "Nun, Rea. Wenn du versuchst die Zeit umzubringen, wirst du nicht viel Erfolg haben. Man muss schon etwas sehr grausames tun um Zeit zu zerschmettern. Zeitenergie kann mehr erschaffen als man glaubt." Er hielt inne, starrte sie durchdringend an und griff dann nach ihrem Arm. Ihm war egal, was sie dachte, ob sie nicht wollte, dass er sie berührte. Er wollte es wissen. Jetzt. Er zog ihren Arm leicht nach vorn und schaute ihn an. Keine dunklen Adern. Nur Rea's blasse Haut. Sie war es. Keine äußere Einwirkung.
Er keuchte lautlos, ließ ihren Arm aus seiner Hand gleiten und schien den Boden mit den Augen abzusuchen, dann sah er sie wieder an. "Du..." Er stoppte, presste seine Hand auf seine Brust und atmete langsam. "Sie weiß nichts. Sie fühlt nichtsmehr... und es ist nicht einfach nur eine Phase..."

Rea dachte eine Zeit lang über seine Worte nach, da packte er auch schon ihren Arm. Sie starrte ihn eine Weile an, dann ließ er los, bevor sie ihn aus seinem Griff reißen konnte. Wütend sah sie zu Avens auf, der geschockt schien, von... ihrem Arm. Rea starrte kurz verwirrt auf ihren Arm, dann schüttelte sie den Kopf und durchbohrte Avens mit ihrem kühlen Blick. ,,Was!?"
Am liebsten hätte sie ihn jetzt leiden gesehen, ihn an ihren Füßen um den Tod betteln sehen und ihn dann unter tausend Qualen endlich den Tod geschenkt, weil er es wagte, sie anzufassen, jedoch war das offensichtlich nicht möglich. Sie hatte ihn schon einmal getötet, trotzdem lebte er, er lebte direkt vor ihr. Zeitenergie kann mehr erschaffen als man glaubt. ,,Das soll wohl heißen, ich muss dir deine Zeit wegnehmen, damit du endlich stirbst."

"Nichts... Da ist nichts..." meinte Avens leise und trat einen Schritt zurück. Die Menschen um sie herum liefen inzwischen wieder etwas langsamer, jedoch immernoch unnatürlich schnell. "Wie konnte das nur passieren... Ich hätte dich nicht alleine lassen dürfen." Avens' Stimme war leise, drang aber ungedämpft durch die Stille und betonte diese nur. Leicht schüttelte er den Kopf, die Hand immernoch an sein Herz gepresst. "Sie muss zu sich kommen... Rea... Ich liebe sie doch." Unwissend, was er tun sollte, sah er sie an, knirschte mit den Zähnen um nicht auszuflippen und womöglich etwas zu zerschmettern oder wieder ein Zeitportal zu erschaffen, denn auch er selbst war sich etwas fremd geworden. Von der Lebensfreude war kaum noch eine Spur, er wurde sehr leicht aggressiv, war impulsiv und schreckte nicht davor zurück, einfach zuzuschlagen - nur dass er meistens gegen Wände oder sonstiges schlug, was auch die blauen Blutergüsse an seinen Händen erklären würde. Alles in einem sah er zerbrochen aus, unzuverlässig und verzweifelt, wenn auch gefährlicher und aggressiver als früher.

,,Du hast mich nicht allein gelassen, Avens.", sagte Rea. Seine Reaktionen, seine Stimme, alles ließ sie vollkommen kalt, machte sie vielleicht noch etwas wütend. ,,Ich habe dich allein gelassen." Langsam ging sie auf ihn zu. Sie merkte nicht, wie die Menschen langsamer wurden, für sie schien die Zeit stehen geblieben zu sein, während sie Avens mit ihrem Blick anstarrte. ,,Immerhin habe ich dich getötet. Ich bin Herrscherin geworden, auch ohne deine Hilfe und mir geht es gut." Sie blieb direkt vor ihm stehen. ,,Vielleicht sogar etwas besser als mit dir."
Wenn sie ihn nicht getötet hätte, ihn nicht im Stich gelassen hätte, dann wäre sie womöglich nicht Herrscherin werden können. Sie würde immer noch für Satan arbeiten und jedes Mal voller Angst zurück ins Schloss kommen können, niemals schlafen können, vor Angst, er würde am nächsten Morgen vor ihr stehen und sie vernichten - endgültig. Manchmal war diese Angst heute noch da, doch wozu? Sie hatte nichts mehr zu befürchten, sie war nun stärker als er, stärker als jeder, sie konnte jeden vernichten, der sich ihr in den Weg stellte, auch, ohne ihn vorher zu töten...
Bis auf Avens.

Avens stieß die Luft bei Rea's Worten aus und began, leicht zu zittern. Er starrte sie an, als sie fertig geredet hatte, sagte nichts, wich nur einen Schritt zurück und bebte weiter. "Ich. Hab. Dich. Geliebt! Und ich tus immernoch!" zischte er und knurrte dann. "Was hat Satan dir damals versprochen!?" Er drehte sich, seine Brust bebte und er starrte kurz in die Leere, bevor er mit der Faust ausholte und mit voller Wucht gegen die Steinmauer schlug. "Hast du jetzt was du wolltest? Macht!?" Seine Stimme wurde lauter und er schlug erneut gegen die Wand, seine Hand wurde rot und wund. "Ich bedeute dir nichts..." Er schnaubte, ignorierte seine Hand und ging auf Rea zu, dann griff er nach ihrer Schulter und sah ihr direkt in die Augen. "Rea! Ich liebe dich!" Er starrte sie an, wartete auf eine Reaktion und zitterte weiterhin leicht. Seine Hand pochte unangenehm, doch er kümmerte sich nicht darum.

Rea schnaubte leicht und wand sich aus Avens Griff heraus. Stumm hatte sie bei seiner Art Anfall zugesehen, belustigt blitzten ihre dunklen Augen auf, als sie daran zurückdachte. ,,Verstehst du es nicht?", sie lächelte leicht, dann verschwand es wieder aus ihrem Gesicht. ,,Ja, ich habe alles was ich wollte, und das habe ich alles alleine - ohne dich - erreicht. Ok?" Sie drehte sich weg von ihm und sah zu den anderen Menschen, die immer noch rasend schnell durch die Straßen jagten. ,,Du bist dumm, wenn du dich in jemanden wie mich verliebst.", flüsterte sie. Es war ein seltsames Gefühl, von jemandem geliebt zu werden, vor allem, wenn man 'Liebe' nicht kannte. Rea wusste nicht, dass sie es doch kannte, und zwar mehr und schmerzvoller als viele andere - wenn sie sich nur daran erinnern könnte. An Liebe, die die Zukunft durchquerte. Liebe, die tötete. Einen innerlich zerfraß.

Avens sah sie die ganze Zeit über mit ernstem Gesichtsausdruck an, starrte ihr in die Augen und hörte ihr zu, selbst als sie sich aus seinem Griff befreite, rührte er sich nicht. "Ich bin nicht dumm. Ich werde es niemals bereuen dich geliebt zu haben... oder dich zu lieben." Seine Stimme war nun wieder leiser, sicherer und ernst, trotzdem zitterte seine Hand leicht. "Los Rea... Errinere dich... Du hast mich auch geliebt." dachte er und schloss kurz die Augen, bevor er sie wieder fixierte. "Was hindert dich daran, mich jetzt einfach hier stehen zu lassen? Oder mich umzubringen? Rea, du weißt es!"

,,Ich würde dich ja gerne umbringen!", rief Rea gereizt. ,,Nur hab ich das schon mal gemacht, oder? Nur hat es blöderweise nicht ganz geklappt, oder? Ich kann 'die Zeit ja nicht einfach so umbringen', ODER?!?" Fast augenblicklich, nachdem sie gebrüllt hatte, hatte sie sich auch schon wieder beruhigt und schloss kurz die Augen. Warum war sie auf einmal so aggressiv? Selbst, wenn sie jemand reizte, verlor sie doch nicht so leicht die Beherrschung.
Rea öffnete die Augen wieder und sah Avens ernst an. Musterte aufs Neue die Haare, die Augen, den Körper von ihm. Niemand konnte ihr im Weg stehen, ohne vernichtet zu werden. Avens stand ihr im Weg... und konnte nicht vernichtet werden. Er hatte Recht, etwas hinderte Rea daran, ihn umzubringen. Selbst, wenn es nicht ginge, hätte sie es immer und wieder getan, bis er irgendwann nicht mehr aufstand. Was hatte er, was niemand sonst hatte?
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging sie auf Avens zu und berührte seine Hand, tippte nur an die Fingerspitzen und dachte nach. Es hinterließ ihr ein seltsames Gefühl, so nah an ihm zu sein und seine warme Hand mit ihrer kalten zu berühren. Sie wollte jetzt wissen, was so seltsam an ihm war. Sie wollte ihn nicht umbringen, nicht, solange sie nicht alles wusste.
Sie hasste es, etwas nicht zu wissen.

Avens erwiederte nichts, beobachtete ihre Reaktion, schaute in ihre geschlossenen Augen und zwang sich, sie nicht zu sich zu ziehen und zu küssen - was er aber lieber als alles andere in der Welt jetzt getan hätte.
Bei ihrer überraschenden Berührung zuckte er nicht zusammen, jedoch konnte man, wenn man aufmerksam war, merken, dass die Menschen in sekundenschnelle einfroren und sich nichtmehr bewegten. Windstille. Stille allgemein. Alles war still und bewegungslos, bis auf ihn und Rea. Mit großen Augen sah er sie an, wich jedoch nicht zurück sondern genoss die Berührung ihrerseits. Er sah ihr an, dass sie nachdachte, hoffte, sie würde sich errinern, also bewegte er sich nicht, fasste nicht nach ihrer Hand sondern ließ sie einfach gehen, vielleicht wäre das - auch wenn es ihm schwerfiel - jetzt am besten. Seine Augen funkelten, einerseitz freudig, andererseits immernoch etwas gereizt.

Rea zischte und fasste sich an die Stelle, wo ihr Herz war - oder gewesen wäre? Sie sah Avens nicht an, bemerkte seinen Blick nicht, bemerkte die Menschen nicht. ,,Du tust weh.", flüsterte sie.

Avens atmete aus, streckte seine Hand aus und legte sie auf Rea's Hand, die sie an ihr Herz drückte. "Was ist?" fragte er, sah sie forschend an und näherte sich ein wenig, minimal, jedoch konnte er ihre Kälte schon spüren und ihren Atem hören. "Ihr Herz tut weh? Sie hat noch ein Herz..?" Die Kälte in seiner Stimme verschwand, auch aus seinem Blick wich jegliche Kälte.

Rea drehte sich ruckartig um, weg von Avens, als er seine Hand auf ihre legte. ,,Lass das...", befahl sie ruhig. Ihrer Stimme, ihrer Haltung sah man nicht an, wie aufgelöst sie war. Wenn Avens ihr Gesicht hätte sehen können, dann würde er jetzt geschockt weite Augen sehen und ein leises Keuchen hören, doch das konnte er nicht. Etwas war mehr als nur merkwürdig an ihm, seine Berührung, seine Nähe, alles schloss sich in Rea zusammen... oder ließ sie frei von etwas. Doch anstatt sich befreit zu fühlen, tat es ihr weh. Es zerriss sie, ihr Herz, ihren Körper, es zerriss ihren Willen, ihren Glauben, ihre Kraft, und gab ihr gleichzeitig noch mehr davon. Sie war dieses Gefühl nicht gewöhnt, war an keine Schmerzen mehr gewöhnt, weshalb es so sehr wehtat. Wenn da nicht etwas bekanntes in dem Gefühl gewesen wäre, dann hätte sie es womöglich für einen Fluch gehalten.

Avens zog seine Hand zurück und verzog leicht das Gesicht. Ihr ging es nicht gut, oder sie war eben anders, aufjedenfall war sie nichtmehr die Rea von früher und auch nicht die Rea, die Satans Kräfte in sich trug. "Was hat sie..?" dachte er und widerstand erneut dem Drang, sie zu küssen, auch wenn er dachte, sie würde endlich wieder ihre Errinerungen finden, sobald er sie küssen würde - doch wäre das nicht so, würde sie womöglich ausflippen. "Rea, denk nach. Du weißt wer ich bin. Ich bin Avens. Time. Du hast mich umgebracht, du hast mich gequält, trotz allem liebe ich dich nochimmer. Erriner dich an Rea aus der Zukunft, du weißt, sie wollte mich beschützen. Zeig mir, dass du noch da bist."

,,Sei still..." Rea flüsterte nur noch, sie war sich noch nicht mal sicher, ob er sie gehört hatte. An Edo-Rea erinnerte sie sich, doch das war nicht sie gewesen. Zukunft kann sich ändern, immer. In der Zukunft, in der sie beide waren, gab es Satan noch. Heute nicht mehr. Edo-Rea war ein verzweifelter Haufen gewesen, sie aber, die ECHTE Rea, war Herrscherin der Unterwelt. Und das wollte sie doch... oder?
Sie drehte sich wieder zu Avens um, versuchte nicht zu zeigen, wie aufgewühlt sie war. Sie sah ihn eine ganze Weile an, sie merkte nicht, wie sich eine kleine Träne in ihrem Auge bildete.